Grenzgebiet

5 Tage im Sattel rund um Watzmann und Hochkönig

  10 Minuten

Wann?30.5. bis 3.6.2018
Wo?Bischofshofen, St. Martin im Tennengebirge, Golling,
Berchtesgarden, Maria Alm Bischofshofen
Wie lange?267 km, Rundtour "Watzmann-Hochkönig-Runde", 5 Tage
Wie hoch?7.107 Höhenmeter

Gut, dass ich ohne Pulsmesser unterwegs bin. Jedes halbwegs vernünftige Gerät hätte bei diesen Daten die Rettungskette ausgelöst.
Ich zwinge mich alle paar Meter stehenzubleiben und gebe meinem Herz-Kreislaufsystem eine weitere Chance durchzuhalten. Meine mir selbst auferlegte Regel verbietet es mir, das Bike zu schieben, solange der Untergrund fahrbar ist. So quäle ich mich immer wieder auf den Gaul, sattle ihn im steilen Gelände neben dem grob schottrigen Forstweg, sodass ich bei der Steigung überhaupt eine Chance habe, wieder in eine Tretbewegung zu gelangen.
Nach einigen hundert Metern ist es geschafft und ich schwappe über die Kuppe auf das auf 1800 Meter liegende Heinrich-Kiener-Haus.
Ein ausladendes Holzgeländer rahmt Grund und Boden rund um die Hütte als wäre es ein Tanzboden. Ich lehne mein Bike ans Geländer und schlüpfe in mein Wechseltrikot. Erst als sich mein Kopf durch den Trikotkragen windet offenbart sich mir das bizarre Panorama. Später erfahre ich, dass vor mir rund 300 Alpengipfel zu sehen sind. Die Route der kommenden vier Tage zeichnet sich also bereits irgendwo vor mir entlang der Hänge ab. Mein Ausgangsort Bischofshofen liegt nach diesem Brutalo-Anstieg 1400 Vertikalmeter unter mir. Was zuhause eine “gute Tour” wäre, ist hier erst der Anfang meiner fünftägigen Südschleifen-Tour rund um sagenumwobenden Watzmann und imposanten Hochkönig.
Zur Wiedergutmachung erhält mein Herzkreislaufsystem vom Sunnyboy-Hüttenwirt Junior ein Häferl Kaffee im Ausmaß eines Suppentellers. Ein Gast erbeutet eine Steirische und der Sunnyboy-Junior-Hüttenwirt setzt zu einem traditionellen “Plattler” an. Heimatfilm, Klappe, die erste.

Ich warte die musikalische Einlage ab und folge dann dem Weg hinter der Hütte. Mein Bike wartet an einem Bankerl, während ich zu Fuß das von Flechten und blühenden Bodendeckern gesäumte, immer schmaler werdende Wegerl aufsteige. Hier ist es: Ein stattliches Gipfelkreuz markiert die Spitze des Hochgründecks auf 1827 Metern Seehöhe.

Gemütlich gehen Forstwege ineinander über und verlaufen kilometerweit fast parallel zum Hang. Ich komme an Forstarbeitern vorbei, die Grashalme kauend nehmen ihren Gerätschaften in der Wiese dösen. Schon zum zweiten Mal an dem Tag komme ich mir vor, als wäre ich in die Dreharbeiten eines Heimatfilms geplatzt. Der nächste Wegweiser zeigt in die falsche Richtung. Ob das die Förster-Jungs waren? 

Mit jedem Meter bergauf von Eben nordwärts färbt sich der Himmel über mir eine Nuance dunkler. Bei den ersten Tropfen schlüpfe ich sicherheitshalber in die hauchdünne Regenjacke, die ich wenige Tage vor meiner Abreise noch schnell gekauft habe. Am höchsten Punkt angelangt hat auch das Gewitter seinen Höhepunkt erreicht. Abwarten? Zu gefährlich. Es bleibt mir nur die Abfahrt nach St. Martin im Tennengebirge und die Hoffnung auf eine Bike-Wäsche in der Frühstückspension.

Das Gewitter des Vorabends hat seine Schuldigkeit getan und ein strahlend blauer Himmel begleitet mich an Tag 2 von St. Martin nach Golling. Die heutigen 765 Höhenmeter auf 53 Kilometer fühlen sich wie eine Auslaufrunde an. Mir bleibt also genügend Zeit für eine erfrischende Pause an der glasklaren Lammer. Noch nicht genug vom tosenden Nass bestaune ich am Nachmittag auch den Gollinger Wasserfall. Mit den Cleats an den Sohlen meiner Bikeschuhe balanciere ich auf den mit Moos überzogenen Felsen entlang des Wasserfalls. Ein Balanceakt, auf den ich wohl zukünftig verzichten werde. Den heftigen Wolkenbruch am Abend des 31. Mais verfolge ich zum Glück diesmal vom Zimmerfenster aus.

Dass mir Tag 3 im Sattel einiges abverlangen würde, ahne ich schon aufgrund der Eckdaten: 1900 Höhenmeter und rund 60 Kilometer gilt es zu schaffen, bevor ich mich im deutschen Berchtesgadener Land niederlassen kann. Die ersten Kilometer von Golling in Richtung Hallein rollen noch gemütlich den Radweg entlang. Unterwegs bemitleide ich einige Radreisende, die mindestens 25 Kilo Gepäck mitführen. Mit meinen sechs Kilogramm am Rücken fühl ich mich bei deren Anblick federleicht.
Ganz so federleicht gestaltet sich der Anstieg über die eigentlich wegen Aufräumarbeiten gesperrte Winterstallstraße dann aber doch nicht. Steile Serpentinen führen mich in Richtung Talstation des Zinkenkogels. Zwischen mir und der Bergstation liegen über 500 Höhenmeter. Anfangs führt der Weg noch verhältnismäßig angenehm den immer dünner besiedelten Hang hinauf. Bald aber verläuft die Route entlang von Lifttrassen, die ich größtenteils schiebend und tragend zurücklege. Doch auch das Gehen ist enorm anstrengend. Ich setze mir also kleine Ziele: bis zur nächsten Liftstütze. Bis zum großen Stein. Es mag daran liegen, dass ich bereits seit über zwei Tagen unterwegs bin, aber dieser Aufstieg kostet mir mehr Kraft als die 2100 Höhenmeter am ersten Tag.
Ich versuche, die Hänge kreuzen, aber der Regen der letzten Tage verwandelt die Wiesen in matschige Sümpfe und nach zwei Schritten sind beide Schuhe im Schlamm versunken.
Im nasskalten Wind, verschwitzt und mit gefühlten 5 Kilo Dreck an den Sohlen stellt sich mir die Frage: Wer hat sich diese Routenführung bitteschön ausgedacht?

Nach einem ausgiebigen Schuhputz klicken meine Schuhe tatsächlich wieder ins Pedal ein. Eine Abfahrt durch den Wald steht an, bevor ich auf die mautpflichtige Roßfeldstraße einbiege. Die Roßfeldhütte hat seit 11 Uhr geöffnet und ich bestelle als eine der ersten Gäste eine kleine Frittatensuppe. Nach wenigen Löffeln merke ich: mein Körper ist noch zu sehr mit den Strapazen vom Zinkenkogel beschäftigt und ich kann kaum was essen. Mehr als die Hälfte der kleinen Frittatensuppe bleibt im Topf.
An einem der großen Aussichts-Parkplätze am Hahnenkamm ziehe ich mit meinem bunten Outfit und unmotorisierten Gefährt die Blicke der Buspassagiere und Motorradfahrer auf mich. Mehr als ein Blick auf die schneebedeckten Flanken des Hohen Gölls ist heute an der “Panoramastraße” ohnehin nicht drin. Zu viel Nebel und drohende Regenwolken hängen über uns.

Ich kehre den Reisegruppen den Rücken und nehme Kurs auf Deutschland. An der deutsch-österreichischen Grenze entscheidet sich auch das Wetter wieder für Sonnenschein und bietet die perfekte Fotokulisse am von Touristen getränkten Königssee. Angesichts der Menschenmassen fällt es mir nicht schwer, Hitlers Lieblingssee zu verlassen, wo ich doch ohnehin noch zwei Erhebungen bis zum Etappenziel Ramsau vor mir habe. In weiser Voraussicht schlage ich mir bei einem offensichtlich beliebten Café-Imbiss im überschaubaren Ramsauer Ortszentrum endlich genüsslich den Bauch voll.

Vielleicht hätte ich jedoch mehr auf das Wetter als auf die Speisekarte achten sollen: Ich nehme die hoffentlich letzte Herausforderung des Tages an und gehe gegen die schwarzen Wolken an den Start. Ich schaffe es noch, den Regenschutz über den Rucksack zu stülpen und schon schüttet es. Der fehlende Kilometer bis zum Nachtquartier ist gerade weit genug, um nass bis auf die Haut zu werden.

Die über 600 Jahre alte Mühle liegt in einer tiefen Senke, die vermutlich auch an schöneren Tagen als diesem kaum Sonnenstrahlen abbekommt. Meterdicke Steinmauern mit winzigen, von Rosen umrankten Fenstern lassen den Hauch von Romantik aufkommen. Bei mir schwindet jedoch im Angesicht der feuchten Wände die Hoffnung, dass irgendeins meiner Kleidungsstücke bis zum nächsten Morgen trocknen wird. Mit einer heißen Dusche gebe ich mich vollends zufrieden und falle nur wenige Minuten später ins Bett.

Der tosende Bach am Zimmerfenster weckt mich früh und ich nehme Kurs auf Österreich. Ein feuchtes Nieseln setzt ein, kurz bevor sich der Hintersee vor mir ausbreitet - bewacht vom ebenso nebel- wie sagenumwobenen, schlafenden Watzmann.
Ich zücke die Kamera, um diesen intensiven Moment festzuhalten.

Ein Mann schöpft Regenwasser aus den kleinen Miet-Holzbooten am Steg. Nur sein Murren bringt mich zurück in die Realität.


Der nächste Streckenabschnitt untermalt die mystische Stimmung: Entlang des wilden Klausbaches durchforste ich den Zauberwald. Ich erkenne, dass ich immer noch in Deutschland bin, weil am Wegesrand anstelle von Fahrverbotsschildern immer wieder kleine, weiß-schäumende Bäche aufblitzen.



Anfangs recht gemächlich, steigt die für den Individualverkehr gesperrte Passstraße plötzlich rasant an. Ein Viehtransporter und ein Feuerwehrauto erlauben mir zwei kurze Pausen, da an ein fahrendes Passieren auf der extrem schmalen und steilen Straße nicht zu denken ist. Zum Glück erfahre ich erst auf österreichischer Seite, dass wir hier von 30%-Steigungen sprechen.

Das Zollwachhäuschen hat sich zu einem ansehnlichen Alpengasthof gemausert und verheißt, dass es ab jetzt bergab geht. Und zwar so steil bergab, dass im kleinen Örtchen Weißbach meine Bremsbeläge am Vorderrad fällig sind. 


Ganz selbstverständlich erlaubt mir die Chefin des Cafés ihre Hausbank als Werkbank zu nutzen und beglückt mich obendrein mit einem doppelten Espresso. An den Bremsbelägen schillert schon das Alu-Trägermaterial. Die Bremskolben sind weit herausgedrückt und lassen sich nicht weit genug zurückdrängen. Ich verwende also die bereits etwas abgenutzten Bremsbeläge vom Hinterrad vorne und verbaue am beweglicheren Kolben am Hinterrad die neuen Beläge.

Die nun folgenden flachen Radweg-Kilometer Richtung Saalfelden eigenen sich hervorragend als “Einschleifmeter” für die neuen Beläge. Spätestens aber beim Anstieg mit lohnendem Blick aufs Breithorn löse ich die Bremse und lass mich vom aufragenden Felszinken leiten.


Erst als ich schon zur letzten Abfahrt des vierten Tages in die Windjacke schlüpfe, bemerke ich wenige Meter entfernt auf einer Bank einen in Camouflage gekleideten Rastenden. Er grüßt recht freundlich mit urigem Dialekt und erkundigt sich, welchen Weg ich hierher genommen habe. In Sachen “Einzelgänger unterwegs” scheint er nach meiner Kurzversion in mir einen guten Gesprächspartner zu sehen: Er berichtet von seinem Leben in einem nahen Unterstand und davon, dass in den Wäldern früher ganz andere Bäume zu finden waren. Dann hält er mir ein offenes Plastiksackerl unter die Nase: “Riach amoi”! Ein bisschen was verdiene er mit dem Sammeln von Harzen und Heilkräutern, die er unten im Tal verkaufe. Vom intensiven Aroma des frisch gewonnenen Harzes kann ich mich mit einem weiteren Zug aus dem Plastiksackerl überzeugen. Ansonsten brauche er nicht viel zum Leben, außer - er deutet auf einen recht prall gefüllten Rucksack auf der Bank neben sich - einen Gaskocher, damit er sich jederzeit einen heißen Kaffee zubereiten könne. Ich verstehe: Ein bisserl Luxus muss sein.

Die aufkommenden Gewitterwolken beenden unsere Begegnung und treiben mich talwärts nach Maria Alm. Ich habe heute wirklich keine Lust, wieder nass zu werden.


Von Maria Alm aus startet mein fünfter und letzter Tag bei erfrischenden 12 Grad steil auf Jufen, wo mich imposantes Damwild mit großen Augen empfängt.

Das anschließende, schillernde Hinterthal beweist, dass man vom Tourismus gut leben kann. Fast jedes der mehrstöckigen, prächtigen Holzhäuser schmückt das “Zimmer frei”-Fähnchen und eine Flotte hochpreisiger Gäste-Limousinen im Vorgarten. Verschwitzt und unmotorisiert kontrastiere ich mal wieder mit den gut betuchten Salzburger Wochenend-Ausflüglern.

Ich verschwinde aus deren Blickfeld, weil ich einen steilen Hohlweg auf den Filzensattel einschlage. Auch hier macht der Regen der letzten Tage den Weg schwer befahrbar und anstrengender, als es sein müsste. Doch oben angelangt sind die Mühen sofort vergessen: In meinem Rücken thront der knapp 3000 Meter hohe Hochkönig und zeigt sich von seiner sonnigen Seite. Ich schließe die Augen und lass mich von den frühen Juni-Sonnenstrahlen wärmen.

Auf der Forstraße trete ich fernab der hektischen Bundesstraße vorbei an Dienten in die Pedale. Erst beim “Fischerstüberl” hat mich die Zivilisation wieder und ich lass es, leider viel zu schnell, talwärts laufen. Hoch erfreut über entspannende Bergab-Kilometer versäume ich den nächsten Abbieger und lande - wie mir zwei Rennradfahrer an einer Kreuzung erklären - in der Talsole des Salzachtals in Lend. Der Weg zurück würden nochmal 1000 Höhenmeter zusätzlich bedeuten. Ich muss mir eingestehen, dass ich nach den heute bereits absolvierten 1000 Höhenmetern die Kraft nicht mehr habe und entscheide mich für den direkt vor mir markierten Salzachtal-Radweg.

Der sogenannte Radweg entpuppt sich leider als purer Wegweiser entlang der Bundesstraße, an der jegliche Geschwindigkeitsbegrenzung aufgehoben scheint. Mit der Angst und ständigen 160km/h im Nacken suche ich nach einem Entkommen. Während einer Stärkung in Schwarzach tüftle ich an einer Route abseits der Bundesstraße. Die letzten Kilometer des letzten Tages setze ich am linken Ufer der Salzach fort, was sich als deutlich erholsamer erweist. Am Weg Richtung St. Johann im Pongau erwarten mich familiäre Siedlungen, die sich mit klingenden Namen wie “Niederuntersberg” an den Hang schmiegen.

Der Begriff Radweg erhält nun wieder seine Berechtigung, wenn er von Maschl die Salzach entlang an Urreiting vorbei auf Bischofshofen zuläuft.

Ich trage mein Bike die Stufen zum Bahnsteig hinauf. Gedanklich bin ich noch nicht am Ziel. Ich bin hin- und hergerissen: Die vergangenen fünf Tage, über 7000 Höhenmeter und 270 Kilometer fühlen sich schon ein bisschen wie ein Sieg an. Trotzdem sitzt da im Bauch das Gefühl der Niederlage wegen der letzten, nicht Strecken-konformen Kilometer, die diese Tour unvollendet lassen.

Ein ebenfalls wartender, älterer Radfahrer spricht mich an und ich erkläre einmal mehr, wohin mich die Watzmann-Hochkönig-Runde an den vergangenen fünf Tagen geführt hat. Als ich mich im Regionalzug mit dem sportlichen Allgemeinmediziner gerade über das nötige Equipment für eine solche Runde unterhalte, schüttelt er immer noch den Kopf: “Dabei siehst du doch aus, als wärst du gerade aus der Schule gekommen”.
Ich bin 29 Jahre alt und in dem Moment sicher: Es ist wohl doch das Siegerlächeln, dass mich deutlich jünger aussehen lässt.



Link-Tipp: Infowebsite zur Watzmann-Hochkönigrunde mit Etappenbeschreibungen und bestellbarem Infomaterial

Has du Fragen zur Tour, zu den Unterkünften auf der Strecke oder sonstiges Feedback, dann schreib mir doch an bikebabsi@gmail.com