Love hurts

Es sind nicht die kerzengeraden Anstiege auf nassen Wiesenwegen. Es sind auch nicht die knapp 2.000 Höhenmeter. Es sind nicht die gut 60 Kilometer, die sich wie eine Achterbahn aufbäumen und wieder abfallen. Es ist eine nasse Wurzel bei Kilometer 7, die die restliche “Tour de Alm” zur “Tour de Qual” werden lässt … 

Laut Wetterbericht sollen es die letzten drei sonnigen Herbsttage 2019 werden. Und diese fallen ausnahmsweise sogar auf ein Wochenende. Letzte Chance – Rucksack packen! Mein Bike-Kollege Max und ich sind uns einig, dass wir endlich die Tour de Alm im oberösterreichischen Mühlviertel in Angriff nehmen wollen. 

Das Auto hinterlassen wir am Friedhofsparkplatz in Dimbach, einem 900-Seelen-Dorf südlich der Route, und machen uns auf den Weg zum Tour-Einstieg. Kalt und feucht ist es noch, als wir um 10 Uhr die ersten Pedaltritte absolvieren – kein Wunder allerdings an einem 11. Oktober. 

Nach wenigen Kilometern und den ersten Rampen sind wir “auf Kurs” und folgen den gut sichtbaren Wegweisern der “Tour de Alm”. Nach unbefahrenen Güterwegen und überraschend steilen Forststraßen locken auch schon die ersten Trails. Glücklicherweise haben wir am Ende der Bike-Saison noch genügend Körner in den Beinen, sodass die knackigen Trails auch bergauf richtig Spaß machen. Umso schöner, wenn man es dann endlich laufen lassen kann. Für Max fängt jetzt der Spaß erst an, nutzt er doch die spätherbstliche Tour für die Jungfernfahrt seines nigelnagelneuen Liteville Enduros. Und so ein Enduro will ordentlich was spüren unter den Stollen. 

Also: Max voran, noch schnell ein Foto des übermütigen Glückskinds schießen und ich hinterher. Wurzel schmiegt sich an Wurzel, Konzentration ist gefordert, sind die Wege ja noch feucht und glitschig. Dann, zwei große Steinbrocken und eine gebogene Wurzel dazwischen. Die nehm ich von rechts!

Ich spüre, dass mein Hinterrad wegrutscht. Im nächsten Augenblick taucht mein Helmschild im Morast des Hangs ein. Ich hebe den Kopf und mein Blick wandert zur rechten Hand, deren Daumen merkwürdig tief im Dreck steckt. Als ich ihn heraus ziehe, ist er komplett zusammengeklappt und schnalzt, wie wenn man eine Plastikflasche zerquetscht. Scheiße. 

An meinem Knie rinnt das Blut herab, das wohl einer Quelle hinter der Moos-Kiesel-Nadel-Schicht auf meiner Kniescheibe entspringen muss. Im Moment mein geringstes Problem. Ich halte mit meiner linken Hand die rechte und hab Angst, die Bewegung zu testen. Was, wenn alles kaputt ist? Wir sind doch erst weggefahren. Wir stehen irgendwo mitten im Wald. Ich muss zu Max, der vom Sturz nichts mitbekommen hat. Ich packe mein Bike mit der funktionsfähigen Hand und setze einen Fuß vor den anderen. Der Schock ist mir bewusst, denn er steuert gerade den ganzen Körper. “Ist was passiert?” Ich nicke von der Ferne. 

Max packt unsere Erste-Hilfe-Sets aus den Rucksäcken. Ich drehe einstweilen den Daumen mit Hilfe der linken Hand in alle zumutbaren Richtungen um festzustellen, dass meiner Einschätzung nach nichts gebrochen ist. Wir entscheiden uns fürs Tapen und fixieren eine große Sicherheitsnadel als Schiene am Daumengelenk. Max fragt 7, 15 oder 20 Mal, ob wir zurückfahren. Von St. Georgen aus, der nächsten Ortschaft,  wäre er in wenigen Minuten beim Auto und könnte mich abholen. Er will mich ins Krankenhaus bringen. Ich will Traubenzucker, nicht ins Krankenhaus! Mit Max’ Hilfe stülpen wir den Radhandschuh über die bandagierte Rechte und rollen weiter. Die Schmerzen dominieren meinen Kopf und ich bestehe darauf, über etwas anderes zu reden. Der Schmerz ist diffus aber mächtig, sodass ich den Lenker locker klemme als fest umklammere. 

Auf den nächsten Kilometern entflammt meine Liebe zu Asphaltstraßen, die ohne Erschütterung auch mit einer Hand oder zumindest ohne Kraftaufwand befahrbar sind. Doch die Tour de Alm ist keine Asphalt-Tour. Immer wieder gelangen wir auf Forstwege und Trails.  Im Gelände gilt 100% Lenkerkontrolle, egal wie groß die Schmerzen während des Zupackens am Lenker sind. Stufige Passagen und Schläge treiben mir die Tränen in die Augen. Zum Glück gibt’s Sonnenbrillen.

Der Route folgend kurbeln wir zur Ruine Ruttenstein und ihrer Schutzhütte hinauf. Die Aussicht auf Essen feuert uns an. Der Burgberg ist steil und der Weg verlangt einiges an Kraft und Motivation. Ich muss zwangsläufig mein Gewicht nach vorne verlagern, um mehr Kraft aufs Pedal zu bringen. Das geht natürlich auf Kosten der Daumenauflage. Der stechende Schmerz wird immer intensiver und ich spüre, wie der Daumen innerhalb des Tapes und Handschuhs anschwillt . Zeit, die Bandage abzunehmen … Ich befreie das gute Stück aus der Fixierung und wasche endlich mein blutverschmiertes Knie mit klarem Wasser. Aus der Wunde bröckelt ein Kieselstein, den ich wohl die vergangenen 30 Kilometer mitgeführt habe.

Auf der Schutzhütte Ruttenstein bestelle ich ein Schafkäseteller. Dabei muss wohl nichts schneiden und kann locker mit der linken Hand essen. Während wir auf’s Mittagessen warten, stelle ich meinen Daumen mit einem Verband ruhig. Das tut gut. Max ist immer noch der Meinung, wir sollten die Tour beenden und in Wahrheit bin ich völlig seiner Meinung. Zugeben würd ich das nie.

Ich will unbedingt den Tag wie geplant beenden, auch Max nicht die Tour mit dem neuen Bike versauen und so heißt’s nach dem Mittagessen wieder Zähne zusammenbeißen. 800 Höhenmeter und knapp 30 Kilometer liegen noch vor uns. Die Höhenmeter sind an diesem Tag nicht mein Problem. Je steiler und anstrengender der Weg, desto weniger Gedanken kann ich an die Schmerzen verschwenden. So werden besonders Asphaltanstiege zu meinen persönlichen Entspannungsphasen. Alles andere ist leider mit einem festen Griff am Lenker, Schalten und Nadelstichen im Daumengelenk verbunden. 

Wir fahren weiter! Jeder Meter bringt uns näher an unser Etappenziel Bad Zell. Höchste Zeit für Daumen-Erholung – er will heute nichts mehr angreifen! Passenderweise hat Max Zimmer im Kurhotel reserviert, was schon beim Betreten Krankenhaus-Feeling aufkommen lässt. Mein Gästeblatt gleicht einem Volksschul-Diktat, was ich mit krakeliger Schrift mit der linken Hand ausfülle. Die Rezeptionistin schaut mir mitleidig dabei zu.

Über Nacht hat sich mein Daumen-Umfang verdoppelt. Vermutlich kein gutes Zeichen. Ich will zur Apotheke in den Ort, um mir Salben, Verbände und eine Schiene zu organisieren. Beim Frühstück schaffe ich es dann aber nicht mehr, den Marmeladenlöffel am Buffet zu greifen oder Butter zu schmieren. Das heißt, ich kann auch den Bike-Lenker nicht mehr umfassen und so wäre der nächste Sturz vorprogrammiert. Als schwachen Trost beschließen wir, die Tour de Alm im Frühjahr fortzusetzen. Max fährt mit dem Bike zurück zum Auto und holt mich und unser Gepäck zwei Stunden später ab. 

Zuhause angekommen nehme ich – zu Fuß – Kurs aufs Krankenhaus. Es ist meine erste Verletzung, die aufs Bike-Konto geht: Daumensattelgelenkskapselriss.
10 Tage Gips, dann schauen wir weiter. 23 Tage sind seitdem vergangen. Eine kleine Asphaltrunde hab ich schon gedreht – ich weiß ja, wie ich den Lenker halten muss um den Schmerz möglichst gering zu halten …  Statt Trailrunden gibt’s aber vorerst Daumenbäder, um die Beweglichkeit und Kraft wieder herzustellen. 

Vernünftig war es vermutlich nicht, knapp 2.000 Höhen- und Tiefenmeter mit einer Gelenksverletzung durch die Gegend zu ballern. Aber sind wir uns mal ehrlich: Wann ist Liebe schon vernünftig?!

Die Tour in Bildern …

Leider konnte ich nach der Verletzung praktisch nicht mehr fotografieren. Deshalb gibt es von der Tour de Alm recht wenig Fotos. Danke an Max, der einige Momente festgehalten und mich damit auch immer wieder zum Lächeln gebracht hat. 

P.S.:

  1.  DANKE, MAX! 
  2. Infos zur Tour de Alm und das sympathische Starterpaket gibt's auf www.tourdealm.at.
  3. Herzlichen Dank für das große Verständnis des Liebenauer Landgasthofs, wo wir Nacht Nr. 2 leider stornieren mussten.

Übernachtungs- und Verpflegungsmöglichkeiten auf Etappe 1:

  • Schutzhütte Ruttenstein bei der Burgruine Ruttenstein bei Niederhofstetten mit saisonalen, g'schmackigen Köstlichkeiten und sonniger Terrasse
  • Färberwirt Bad Zell bietet tradtionelle, sehr gute Gerichte in uriger Atmosphäre
  • Kurhotel Bad Zell, die Übernachtungsmöglichkeit entlang der Strecke mit gemütlichem Café
  • Alle weiteren Gastgeber entlang der Tour de Alm stelle ich hoffentlich bei der Fortsetzung im Frühjahr 2020 vor.