Die Leiden des jungen Bike-Guides
"Und dafür zahlt man auch noch Geld". Der Vermieter meiner Jugendstil-Villa steht raunend am roten Läufer des Stiegenabsatzes und blickt mitleidig auf mich herab.
Ich versuche mir mit einer Hand die FFP2-Maske ins Gesicht zu drücken, während ich in der anderen Hand meine nassen Bike-Schuhe möglichst unauffällig durch das Treppenhaus der Villa schleuse.
"Ja, wir sind sogar alle freiwillig hier" – es klingt, als müsste ich mich selbst daran erinnern.
Dass er meine Begeisterung für diese Art und Jahreszeit der Sportausübung nicht ganz teilt, ist mir schon seit heute morgen bewusst. Da hat er mich mit einem "Sie tun mir ja so leid" in eine Mischung aus Schnee, Regen, Graupel und Schneeregen verabschiedet.
Und so präsentiert er sich auch für die nächsten zehn Stunden: der erste Tag der Mountainbike Guide Ausbildung von bikepro – Vereinigung österreichischer Radführer – Anfang März im Wienerwald.
Als einen Dreivierteltag, einer sehr langen und sehr heißen Dusche später und dem fünften Tee des Tages noch immer keine Hitzewallungen eintreten, krieche ich samt Flauschsocken ins Bett. Kurz vorm Einschlafen durchfährt mich ein Zucken: Hab wohl schon wieder ein Hütchen beim Becherslalom gerammt.
Als am nächsten Tag der Pizzabote am Parkplatz einbiegt, zaubern unsere drei Bus-Jungs pünktlich ihre Campingsessel hervor: Corona-konformes Mittagessen in der Sonne: Wir sind uns einig: viiiiel besser als gestern!
Der Vormittag hat sich bisher als weitere Trockenübung der Fahrtechnik, Slalom, Hütchen, Becher und Co gestaltet. Nachmittags geht's ins Gelände. Und wenn das Gelände nach mehreren Tagen Schnee und Eis eines nicht ist, dann eine Trockenübung!
Eine zähe Masse aus Lehm, Laub, kleinen Ästchen und Steinchen verteilt sich in jeder Ritze meines Kettenblattes und lässt die Kette nicht mehr aufnehmen. Der "Uphill-Trail" wird über weite Teile für mich zum Wandertag. Nur, dass oben kein Gipfel sondern der Rest der Gruppe seit gefühlten Stunden wartet.
Nächste Station: Skills Area. Wir hoppeln, gleiten, stürzen über gebaute Hindernisse.
Was Anfangs intuitiv gut funktioniert und auf jeder natürlichen "Stufe" ebenso gelaufen ist, verwandelt sich bei mir mit der Zeit in ein unkoordiniertes Getänzel. Das Video meiner sogenannten Stufentechnik erinnert mich an einen verletzten Frosch. Da verzichtet selbst unser Kursleiter Peter auf einen Kommentar.
Endlich Gelände! Wir lernen einen der Wienerwald Trails mal gemütlich kennen, um ihn dann Stück für Stück genauer zu untersuchen. Lift sei dank, sparen wir uns für die nächsten Runden auch die Lehmstätte names Uphill-Trail. Über's Liftfahren mit dem Bike habe ich schon allerhand Schauergeschichten gehört. Doch so schlimm sieht das von Weitem nicht aus: Der Bügel kommt wie beim Schifahren daher, wird dir unter den Sattel geschoben und zieht dich samt Bike hoch. Dass mein XS-Rahmen nicht viel Platz zwischen eingefahrener Sattelstütze und Hinterbau lässt, wird gleich zu einer anderen Geschichte …
Ich spüre sofort, dass der Liftbügel nicht unterm Sattel zieht, sondern irgendwo zwischen Rucksack und mir steckt. Er zieht mich mit hoch und bringt mich zu Fall, bis ich verkeilt zwischen Bike und Liftbügel über den Boden radiere.
Nicht schon wieder das Handgelenk! Genau jenes Pfötchen, das mich auch zwei Tage vor Kursstart auffangen musste, bekommt erneut die volle Ladung ab.
Als ich nach dem zweiten Lift-Versuch am Traileinstieg ankomme, kann ich kaum an was anderes denken als an das Stechen und Pochen im linken Handgelenk. Und das am Tag 2 der Guide-Ausbildung: Das kann noch heiter werden …
Die auf den Heizkörpern verteilte Kleidung ist zum Glück über Nacht getrocknet, mein Handgelenk mit Sportsalbe so gut es geht behandelt. Checkout aus der Nobel-Villa und ab nach Korneuburg. Denn für heute wird uns der Pumptrack und eine kleine Trailtour am Nachmittag angekündigt.
"Tour", das klingt nach mir. Doch davor geht's erstmal zum Trainings- und späteren Prüfungsgelände, wo in einer Woche unsere Fahrtechnik-Fertigkeiten als Mountainbike-Guide auf den Prüfstand kommen. Hütchen und Pylone, Seile und Stufen lauern über das ganze Gelände hinweg verteilt. So ähnlich wird in einer Woche der Prüfungsparcour aussehen. Wieder verwandelt sich der über Nacht gefrorene Boden im Laufe des Vormittags in lehmigen Brei, der Stollen verklebt und Lenkeinschläge einfach ignoriert.
Obwohl mein Handgelenk bei ruckartigen Bewegungen rebelliert, schau ich mir so manches bei meinen Kollegen ab und erklimme immerhin doch noch die fiesen Uphill-Stufen. Doch ich weiß leider , dass es nicht nur am Untergrund und meiner Verletzung liegt, dass ich an so vielen Passagen des Parcours scheitere.
Die Sonne tut unterdessen ihre Pflicht und trocknet unsere Trails für die nachmittägliche Tour rund um Greifenstein allmählich etwas auf. Wir studieren und probieren an einer Schlüsselstelle verschiedene Linien aus. Ich will die Chance auf jeden Fall nutzen, dass ich so wertvollen Input – und notfalls Ersthelfer – rund um mich habe. Die Race-Line will ich auch noch schaffen! Einfach senkrecht runter. Beim zweiten Mal klappt's. Ich bin mächtig stolz, als mir ein Kollege "Race-Babsi" nach ruft.
Pünktlich zum Sonnenuntergang zerre ich mein Bike in den Kofferraum. Mein Handgelenk ist am Ende, ebenso wie der erste Teil der Guide Ausbildung. Bevor ich ins Auto steige, muss ich noch schnell den Patienten fotografieren. Nein, nicht mein Handgelenk, sondern den am Vortag abgebrochenen Schalthebel meiner Kollegin. Den hab ich nämlich morgens am Parkplatz mit Tape und Kabelbindern am Lenker fixiert. Da hüpft mein stolzes Bastler-Herz, denn niemals hätte ich mich wetten getraut, dass diese Konstruktion den ganzen Tag über bombenfest hält.
Von Montag bis Donnerstag treffen wir uns nun immer abends zum fröhlichen Zoom-Meeting. Den Plan, mir diese Woche frei oder weniger vorzunehmen und Fahrtechnik zu üben, kann ich von Anfang an streichen. Weder der Terminkalender noch mein Handgelenk lassen Bike-Feeling aufkommen. Als gegen Ende der Woche noch immer keine Besserung in Sicht ist, gibt's zum obligatorischen Corona-Test gleich noch eine massive Handgelenkbandage dazu. Denn eines ist sicher: Freiwillig geb ich jetzt, 3 Tage vorm Ziel "geprüfter Bike-Guide" zu werden, nicht auf!
Freitag, 6 Uhr, Bike-Tag! Ich kratze mal wieder Eis vom Auto, um heute den Guiding-Part der Ausbildung am Mödlinger Anninger zu absolvieren. Ich freu mich, die Truppe live wieder zu sehen, auf's Biken und auf's Guiden. Denn so – und nur so – hab ich mir die Ausbildung zum MTB-Guide eigentlich vorgestellt.
Mildes Klima, ein mediterraner Föhrenwald und sogar ein Tempel überraschen mich im Osten Niederösterreichs. Zugegeben, der Graupelschauer zur Mittagspause hat uns auch alle überrascht. Am Ende der geselligen Guiding-Trail-Touren-Mischung fahre ich nicht in "meine" Villa, sondern hinter meiner Kurskollegin in die Studentenwohnung ihrer Tochter. Dort bekomme ich ein Sofa, eine Dusche, einen Espresso und dazu die besten Gespräche seit langem. Den Rotwein überlasse ich ihr, denn sonst könnte ich das Guide-Skriptum gleich unter den Kopfpolster legen, wo doch morgen noch die Theorieprüfung am Programm steht!
Von mir aus könnte dieser 5. Praxis-Tag nach einer Bike-Tour, Guiding, Skills Training, Erste Hilfe Übung – leider unterwegs auch praxisnäher als geplant – und einem Abschluss-Trail auch gerne schon vorüber sein. Doch da warten jetzt zwei A4-Seiten voller Fragen am immer düster werdenden Parkplatz auf mich. Kniend auf der Schaumstoffunterlage des Rucksacks schreibe ich, was das Zeug hält. Als ich vor lauter Dunkelheit meine eigene Schrift nicht mehr sehe, gebe ich ab.
Eine heiße Dusche, eine Lieferando-Lasagne und einen halben Mohr im Hemd später freuen wir uns über die Whatsapp Nachricht, die verrät, dass wir die theoretische Prüfung geschafft haben. Erleichtert verroll ich mich am Sofa. Gute Nacht! – vorm großen Finale des Fahrtechnik-Parcours und der Lehrauftrittsprüfung!
Finaltag. Wir treffen uns am Prüfungsgelände, wo uns Hütchen und Fähnchen entgegenwehen. Der Parcour ist noch weitläufiger als vergangene Woche. Wir dürfen 5 Fehler mehr als unser Trainer Peter machen. Er macht keinen einzigen: kein Abstieg, kein Hütchen berührt, gestreift, nicht mal schief angesehen.
Zur Vorbereitung haben wir 10 Minuten Zeit, die wir nach eigenem Ermessen nutzen können. Ich möchte die schwierig zu erfassende Linie über den Pumptrack checken, um nicht auch noch unnötig Orientierungsfehler zu machen. Nach wenigen Metern bleib ich mit dem Pedal hängen, steig Kopf voran über den Lenker ab. Wenigstens ist die Landung im Gatsch relativ weich. Damit beende ich meine Vorbereitungszeit, denn Konzentration scheint mir jetzt wichtiger.
Ich nehme meine steife Bandage vom Handgelenk ab. Die Schmerzen muss ich ignorieren, denn jetzt brauch ich maximales Gefühl beim Lenken und Bremsen.
Ich bin an der Reihe. Ich hör den Kunststoff eines Bechers, den ich eigentlich nicht berühren sollte. Dummer Fehler. Wenig später steh ich vor einer Wurzelstufen-Kurve bergauf, die – ich schwöre – bei der Begehung noch nicht hier war. Abstieg. Konzentration. Weiterfahren. Die nächsten Meter laufen nach Plan.
Abschüssiger Slalom geschafft, plötzlich prasselt es auf den Helm an der Brille ziehen Eiskörnchen vorbei. Ich muss grinsen, weil ja heulen auch nichts bringt: "Perfekte Prüfungsbedingungen", schießt es durch meinen Kopf.
Das letzte Viertel des Parcours. Die Schaltung hakt, die kleinen Gänge springen. Warum genau jetzt, weiß ich nicht. Kursleiter Peter und das Gefolge müssen meine Schaltung ebenso klackern hören. "Meine Schaltung gibt vor mir auf", rufe ich als Kampfansage in den Eisregen.
Abstieg zum Hang. Peters Corona-Gruß-Faust taucht vor mir auf. "Gratuliere!"
Ich kann noch immer nicht aufhören zu grinsen, selbst als der prasselnde Eisregen laut und deutlich in Hagel übergeht.
Der Himmel lichtet sich eine Dreiviertelstunde später, genau wie in der Wetter-App angekündigt. Dabei hätte ich die Mittagspause in meinem Kofferraum, eingewickelt in meine eigene Bettwäsche, mit Jause und trockenen Socken tatsächlich noch länger ausgehalten. Wer braucht da schon eine Villa …
Der letzte Teil der MTB Guide Ausbildung wird eingeläutet: Wir üben in Kleingruppen den Lehrauftritt, bevor wir einzeln selbst ein Thema ziehen und diese Fertigkeit unseren Kolleginnen und Kollegen vermitteln müssen.
Mein Thema: Bremsen. Damit bin ich als Zweite dran. Während des ersten Lehrauftritts startet meine Vorbereitungszeit, sodass ich gar nicht als Teilnehmerin mitmachen kann. Ich verteile Hütchen, überlege mir möglichst vielseitige Übungsformen an mehreren Stationen und hol meine Gruppe am Endpunkt des vorangegangenen Lehrauftritts ab.
Doch die Stimmung dort scheint etwas gedämpft. Der vorangegangene Lehrauftritt war wohl nicht ausführlich genug und muss später wiederholt werden. Ich bekomme Bedenken, dass bei meinem umfangreichen Aufbau das Gegenteil der Fall sein könnte und ich die Gruppe überfordere.
Nach einiger Zeit unterbricht Peter und trommelt uns zur Nachbesprechung zusammen. "Ungleiche Hütchen-Farben in den beiden Richtungen", bricht es aus mir heraus. Wir müssen beide schmunzeln, weil wir auf diese Art von Muster und Signalfarben gleichermaßen sensibel reagieren. Es folgt eine recht lange Liste an Kritik. Sind das konstruktive Verbesserungsvorschläge oder wird das ein vernichtendes Urteil? Am Ende frag ich nach. "Bestanden natürlich!"
Ich bin damit die erste aus unserer Gruppe, die alle vier Teilprüfungen positiv abgelegt hat. Corona-Fäuste und Zurufe lassen es mich endlich glauben: Ich bin jetzt geprüfter Bike-Guide!
Bei den folgenden Lehrauftritten darf ich nun endlich Teilnehmerin sein. Mit jedem, der den letzten Teil der Prüfung besteht, freuen wir uns rigoros mit.
Als letzter Lehrauftritt steht die Organisation eines Spiels am Programm. Mein Kollege baut alles für einen Bike-Staffellauf auf. Ich erinnere mich: "Mit Spiel zum Ziel" - lautete der methodische Punkt im Skriptum.
Bei der Teamzusammensetzung herrscht Damenwahl. Wir Mädels rufen die Jungs abwechselnd in unsere Teams. In zwei Reihen stehen und liegen Becher, Hütchen, Seile und Pylone vor uns, die es möglichst fehlerfrei Slalom-fahrend, schiebend, vorwärts, rückwärts zu bewältigen gilt.
Es fällt der Startschuss!
Vorbei am Hindernis, fokussieren, geradeaus, kein Seil berühren, rauf auf den Hügel, rund ums Hütchen. Becher klirren, zersplittern, spritzen über den Asphalt. Bikes im Wert von Kleinwagen werden über den Asphalt des Skateparks geschliffen. Es eskaliert! Wir jaulen, brüllen, feuern uns an, brechen fast nieder vor Lachen. Es ist geschafft!
Die Holztische und Bänke am Trainingsgelände sind mittlerweile halbwegs aufgetrocknet, sogar die Sonne schaut kurz vorbei. Der Reihe nach nehmen wir unsere Zertifikate und Ausweise zum geprüften MTB Guide entgegen. Aus einem Berg bedruckter T-Shirts dürfen wir unsere Größe ausbuddeln. Ich fühl mich stolzer als nach der Matura und streif mir das T-Shirt gleich über. Sogar das Ausweisfoto gefällt mir ausnahmsweise.
Barbara Pirringer, Mountainbike Guide.
Ja, genau dafür zahlt man auch noch Geld!
Ein riesengroßes Dankeschön geht an Bikepro – Vereinigung österreichischer Radführer. Sie haben es dank neuartigem Kurskonzept (Praxis ausschließlich im Freien, kein Aufenthalt in Innenräumen, negativer Covid-Test bis längstens 24 h vor dem jeweiligen Praxisteil, Online-Theoriekurs, 2m-Abstand, Masken am Betriebsgelände und bei Erste-Hilfe-Übungen), Ermahnung zur Disziplin und mit viel Improvisationstalent geschafft, diesen Kurs abzuhalten uns uns zu geprüften MTB-Guides zu machen. Etwas, das man nicht unterschätzen sollte.
Ein noch größeres Danke geht an unseren Ausbildungsleiter Peter Schrottmayer und an meine Kurskolleginnen und Kurskollegen. Sie haben diese außergewöhnliche Woche zu einer Ansammlung einzigartiger Momente und Erfolgserlebnisse gemacht.
Danke ebenso an das Trailcenter Hohe Wand Wiese, wo wir im Außengelände schrauben, Tubeless flicken und Ketten nieten durften. Der Teekocher der Trailcenter-Küche darf ab sofort bei 0°C und Schneeregen das Prädikat "lebensrettende Sofortmaßnahme" tragen.
Und last but not least ein herzliches Danke an den kopfschüttelnden Herrn Hoffmann-Köllner samt flauschigem Aussie Günther vom "Haus Hawei Wien" und an meine liebe Bike-Kollegin Maria, wo ich in dieser besonderen Zeit zu Gast sein durfte.
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